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BRÜN: HÖCHSTE EISENBAHN.

Der Ort ist zauberhaft, das Haus gehört zum baulichen Kulturerbe des Kantons – doch der Strick hinter der 300-jährigen Walserstube ist teilweise verfault, der Stall einsturzgefährdet. Für das historische Haus in Brün am alten Weg zum Tenner Chrüz und ins Safiental ist es also höchste Eisenbahn.


Text: Fridolin Jakober

Bilder: Claudio Ambühl

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Auf 1300 m ü. M. hoch über der Rheinschlucht und Valendas liegt seit ehedem das Dorf Brün am Walserweg, heute ein beliebtes Ausflugsziel für Mountainbiker, die dort im Restaurant «Düra Ast» eine traumhafte Aussicht geniessen und den Duft des frischen Heus einatmen. Fast jedes Haus hier gehört zum baulichen Kulturerbe und birgt in sich ein Stück der Geschichte Graubündens, der Walser und ihrer alten Wege. Etwas hinter dem Dorf, am alten Weg nach Imschlacht und zum Tenner Chrüz ins Safiental, liegt ein Säumerhaus aus der Zeit der Walser und ganz in der Nähe ist auch das historische Walserhaus, von dem hier die Rede ist. Neben dem Zufahrtsweg, der mit einer Natursteinmauer gesichert wird, stehen Lärchen, Birken und einige alte Obstbäume, nach einer Kurve kommt das Haus, wo die Arbeiter am Umbauen sind. In der Küche werden die Valser Natursteinplatten gelegt, im alten Stall sind die Zimmerleute am Werk. Doch bevor man mit diesen Renovierungs- und Umbauarbeiten überhaupt beginnen konnte, mussten die Leitungen für Strom, Wasser und Swisscom vom Dorf her durch ein Tobel bis hierher zum Haus gezogen werden.

Rettung in letzter Minute

Dass sie alle hier arbeiten, verdanken sie einem Liebhaber, der den baukulturellen Wert erkannt hat und dieses Haus samt Umschwung in Zusammenarbeit mit Architekt und Denkmalpflege retten und zu seinem Rückzugsort umbauen lässt. Tatsächlich war das Haus noch vor zwei Jahren dem Untergang geweiht – ein Stück historischer Baubestand drohte zu verschwinden. Vollgestellt bis zur Dachkante zeigte sich, nachdem es erst einmal freigeräumt worden war, dass die Fundamente brüchig, die Wände wackelig waren, der Strick teilweise verfault und wurmstichig, das gesamte Haus einsturzgefährdet. Die Originalfassade, vor dem alten Strick aufgemauert aus Stein mit einem für Graubünden seltenen Fachwerk, die 300-jährige Walserstube mit dem Ofen – all das wäre unwiederbringlich verloren gewesen. Nachdem der Baumeister das Haus neu fundiert und der Dachdecker seine Substanz mit neuen Kupferdächern gesichert hatte, ging es daran, Schritt für Schritt die Haustechnik mit Erdsonden-Wärmepumpe, die Elektroverteilung, die Leitungen für Wasser und Strom einzubauen. Gleichzeitig restaurierte Christian Widmer mit seinem Team von Holzrausch Raum für Raum.


Das Walserhaus in Hinterbrün erstrahlt in «neuem Glanz»,  inklusive aufwändiger Fassadenrestauration und Dachsanierung.Lauschiger Sitzplatz für gemütliche Sommerabende oder für den Morgenkaffee  unter der Lärche mit Ausblick auf Brün und ins Bündner Oberland.

Das Maximum erhalten

Gerade sägt sein Schreinerkollege im «Stübli» ein Kantholz auf Gehrung, sie wird später nicht mehr zu sehen sein. Restaurator Christian Widmer weist auf die Simse der Fenster hin, wo die Abschlussleisten – kaum sichtbar – verlängert wurden. «Jeder Pfosten hier ist Bestand, wir konnten viel von der Substanz der Zimmer und der Stube erhalten. Wo wir etwas ersetzen oder ergänzen, schauen wir, dass wir materialmässig möglichst viel aus dem Bestand des Hauses nehmen können.» So wurde das Stübli erhalten, die Fassade wird derzeit von Spezialisten restauriert. «Wir konnten hier viel rausnehmen vom Holz und konnten weit mehr als gewöhnlich erhalten, allerdings haben wir einzelne Leisten oder die Türfutter aus unserem Fundus beziehungsweise mit Material aus der Zeit des Hauses ersetzt.»

Ausgenommen davon sind, so Widmer, die Innenseiten an den Aussenwänden. «Da mussten wir einen Originalstrick suchen, ihn zuschneiden und anpassen.» Dazu macht sich Peter Hermann vom Holzrausch-Team auf die Suche, fragt bei verschiedenen Quellen, was am Markt vorhanden ist, und sucht schliesslich einen Strick aus, der möglichst wie das Original ist oder dem nahekommt. «Denn es gibt handgehobelten Strick, ganz feinen, den sie früher für die Decken brauchten», so Christian Widmer. «Hier brauchte es aber handgehauenen Strick, der wirkt rustikaler – den findest du nicht überall.» Besonders die Suche nach den passenden Oberflächen im Bereich Essraum-Küche sei, so Widmer, ein langwieriger Prozess gewesen.

Die richtige Idee realisieren

Da das Haus isoliert werden sollte, wurde intensiv diskutiert, ob man dazu neues Holz oder eben originales nehmen sollte. «Mit dem Holz wird das Haus innen verkleidet, nachdem die Lattung und die Isolation auf dem Strick des Hauses angebracht wurden. Oder man kann – wie etwa hier beim Stübli – das Täfer ausbauen, die Aussenwand dahinter isolieren und das Täfer am Schluss wieder einbauen.» Das ist leichter gesagt, als getan, wie sich noch zeigen wird. «Die neue Herausforderung hier war, dass ich sowohl mit dem Architekten wie auch mit einem Bauleiter zusammenarbeite, wobei eben die endgültige Vorstellung des Resultats erst gefunden werden musste. Es ist oft so, dass Architekt, Bauleitung und Kunde eine Vorstellung haben, sie haben ein klares Bild vor Augen, wie es kommen soll. Aber wenn wir
dies als Handwerker realisieren, stellen sich viele weitere Fragen: Ist es überhaupt möglich? Gibt es das Material, welches dazu benötigt wird? Die Erfahrung zeigt: Es geht nicht immer alles. Aber wir versuchen stets, so nahe wie möglich an diese Vorstellungen heranzukommen.»


So auch hier. «Vorne – an der Ecke des Stüblis – war der äussere Strick völlig verfault, das Ganze musste also zuerst vom Zimmermann mit Stützbalken stabilisiert werden. Dadurch, dass das Täfer ausgebaut wurde und man eine Isolation aufbrachte, wurden die Wände stabilisiert, deshalb mussten die ganzen Fensterlaibungen, die Futter, die Simse und alle Leisten angesetzt werden, damit sie wieder ins Bild passen.» Teilweise wurden die Werkstücke durch Christian Widmer in der Schreinerwerkstatt neu hergestellt und anschliessend so angepasst, dass das Stübli im Gesamtbild möglichst originalgetreu aussieht.


Die gealterte Fassade gibt dem Sitzplatz vor dem Stallanbau das gewünschte Ambiente.

Ein Quereinstieg

Doch Christian Widmer war nicht immer Restaurator: «Ich besuchte nach der Kochlehre und zwei Jahren auf dem Kochberuf die Schnitzerschule in Brienz und wurde dort eidgenössisch diplomierter Holzbildhauer. Dort lernte ich die Handhabung der Maschinen, lernte, wie man die Oberflächen behandelt, den Umgang mit der Kettensäge. Wenn ich jetzt ein passendes Stück Holz und Zeit hätte, könnte ich eine Kuh schnitzen. Dann kam ich zu Holzrausch und begann als Möbelschreiner, zum Erlernen des Restaurierens ging ich zu Restaurator Max Rüedi.» Ein Praktikum beim Restaurator, der auch für die Denkmalpflege arbeitete, sollte seine weitere Berufslaufbahn bestimmen. «Dort lernte ich, alte Bündner Möbel zu restaurieren, alte Türen, Böden, Decken, Truhen, Schränke, Gänterli.» Wie er dabei vorgeht? «Erst wird alles auseinandergenommen und angeschrieben, damit man später weiss, wie das Werkstück wieder zusammenzusetzen ist. Dann werden die einzelnen Teile geflickt. Was nicht mehr da ist, wird ersetzt. Danach wird das Werkstück wieder zusammengebaut.» Zum Schluss gehe es an die Oberfläche. «Sie wird gewaschen und danach so bearbeitet, dass der Charakter herauskommt.» In diesem Objekt hier etwa sind es nicht nur Böden, Decken, Wände und Türen, an denen Widmer arbeitet, das Team von Holzrausch übernimmt nach Evaluation mit dem Kunden zusammen auch die Möblierung der Räume mit ausgesuchten Bündner Bauernmöbeln.


Der Fundus entscheidet

«Holzrausch hat einen grossen Möbel- und einen riesigen Materialfundus – wir retten teilweise die Baumaterialien vor dem Verschwinden.» Christian Widmer sagt stolz: «Wir haben so viel, dass ich das ganze Jahr Ostern habe.» Soll heissen, dass er dauernd etwas sucht. «Man sucht immer wieder Teile, jeden Kloben, jeden Riegel in der Holzart, die man braucht. Du hast eine Originaltür, wo eine Leiste fehlt, da musst du eine Leiste suchen, die zur Tür passt. So eine Eingangstür, das verlangt schnell einmal vier bis fünf Tage Restaurationsarbeit. Die Türe, das Futter und den Türrahmen suchen und aufeinander anpassen, die Beschläge, das Schloss – und es ist bei jeder Tür anders. Ich mache das jetzt bald 15 Jahre. Trotzdem kann ich noch nicht sagen, für diese Tür brauche ich so und so lang. Denn die Umstände sind nie dieselben. Die Projektleitung fragt mich oft, wie lange benötigst du – ich muss dann immer sagen ‹zirka›. Manchmal bin ich schneller, dann wieder brauche ich mehr Zeit. Man hat ein Stübli, baut das Täfer aus. In diesem Augenblick weiss man noch nicht, ist es genagelt, gesteckt, geleimt, das kann man erst sehen, wenn das Täfer entfernt ist. Erst da stellt sich heraus, ob es geschiftet werden muss, ob die Rückwand auch noch erst befestigt werden muss. Ich hatte schon Holz, das von vorn intakt wirkte, das aber zerfiel wie Sägemehl, als ich es auseinandernahm. Man sieht also nicht immer, was dahinter zum Vorschein kommen wird. Dann ist der Aufwand grösser als geplant.» Gleichzeitig ist jeder Eingriff eine Gratwanderung zwischen wiederherstellen und neu machen.


Restaurierte Stubentüre und originale, gelaufene Böden.Modern interpretierte Küchenzeile im angebauten Stallteil.Küchenkubus mit Kochfeld und Dunstabzug mit Umluft trifft auf originale Strickwände und Valser Naturstein.

Arbeitsteilung

Die Firma im Holzbereich, bei der Widmer seit 15 Jahren arbeitet, plant und realisiert Projekte, die alpine Authentizität und Wohnlichkeit ausstrahlen. «In diesem Walserhaus sind wir zuständig für den alten Teil, also für alles, was mit Altholz zu tun hat, alte Türen, Decken, Böden», so Christian Widmer. «Der neue Teil wird von einer Zimmerei aus der Gegend gebaut. Für neue Objekte im Tourismusgebiet
etwa verwenden wir oft gehackte Seiten», erklärt Widmer, «bei historischen Häusern wie diesem geht es darum, möglichst mit dem Originalmaterial zu arbeiten – also etwa mit passendem Strick.» Auch alles andere – seien es Fussleisten, Futter oder Fensterbretter – wird vom Team ans alte Walserhaus angepasst. «So bestanden an diesem Haus bereits alle Fensteröffnungen, die es jetzt hat.» Teilweise sind das kleine und kleinste Ausgucke, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden – in ihnen zeigt sich der archaische Charakter des Gebäudes. «Zu jedem haben wir dann Fensterrahmen und Verkleidungen so gemacht, dass sie passen und das Haus isolieren. Keines dieser Fensterchen ist gleich wie das andere.»


Die originale Wohnstube erstrahlt im restaurierten Glanz: Originales Stubentäfer, gelaufener Riemenboden, ein antiker Bündner Zahltisch und alpenländische Stabellen laden zum Eintauchen in vergangene Zeiten ein...Einzeln angefertigte Design-Armaturen auf regionalem Naturstein strahlen eine schlichte Eleganz in den Nasszellen aus.Einheimisches Produkt: Naturstein-Lavabo aus Andeer-Granit.Ausblick aus der gemütlichen Wohnküche zur offenen Feuerstelle.

Von A bis Z

Dieses alte Walserhaus kennt Widmer inzwischen auswendig, denn in jeder Phase des Baufortschrittes hat er wieder andere Arbeiten zu verrichten: «Wir haben hier schon vor zwei Jahren ausgeräumt.» Er weist auf den Stapel Bretter und Leisten unter dem Vordach: «Wir haben hier auch ein ganzes Sammelsurium von ausgebauten Hölzern. Da schaue ich jeweils nach, was man davon wieder fürs Haus verwenden kann. Es liegt mir, Material aus dem Abbruch wieder zu verwenden – das ist eine Herausforderung, ein bisschen, als setze man ein Puzzle wieder zusammen.» Doch im Gegensatz zum Puzzle braucht Widmer Flexibilität beim Einsetzen der Stücke und es hilft ihm, dass er genau mit den Oberflächenstrukturen arbeiten kann. Oft geht es um Abschlüsse, Übergänge.


Alfred Candrian war als Architekt während drei Jahren zuständig für das Projekt, die Ausführungsplanung und die gestalterische Leitung. Gerade bei diesem speziellen Haus war der Architekt – er stammt aus der Region und identifiziert sich aussergewöhnlich mit dem Objekt – häufig vor Ort, um engagiert und mit Akribie für die bestmögliche Umsetzung des Gesamtprojektes zu sorgen und auch bei den Details der alten Bausubstanz an einer perfekten Lösung mitzuarbeiten. Das Projekt an dieser speziellen Lage forderte auch alle anderen am Bau beteiligten Unternehmer, Bauleiter Philipp Fleischli und die Handwerker heraus. «Letztes Jahr fingen wir mit dem Ausbau an – doch wie lange wir noch haben, kann ich nicht sagen. Es ist fertig, wenns fertig ist. Denn es muss bis ins Detail stimmen und jedes Projekt ist anders. Das ist die Machart von uns: Wir sind meistens von Anfang an dabei, jedenfalls bei Objekten wie diesem, wo wir restaurieren. Wir arbeiten uns Schritt für Schritt, Stück für Stück vorwärts. Wir sind auch die letzten am Bau. Wir kontrollieren, ob alles funktioniert, ob die Türen gängig sind, ob noch etwas angepasst werden muss. Zuletzt sind wir es, die die Talglichter aufstellen und das Cheminée einfeuern, bevor wir den Schlüssel übergeben», lacht er und geht wieder hinein in dieses Juwel, das in letzter Minute vor dem Untergang gerettet werden konnte.


Glasflächen, Metallrahmen, Lärchenholz und originale, gealterte Rundholzbalken im Stallanbau in Brün: Spannende Ein- und Ausblicke inklusive...Restaurierte Kellertreppe aus Holz.Liebe zum Detail: Antikes, ziseliertes Türschloss.Einfacher Bauerntisch aus antikem Fichtenholz gefertigt.